Johann Zeitler:
- Man wird von allen Seiten und in alle Richtungen segmentarisiert. Der Mensch ist ein Tier, das aus Segmenten besteht. Die Segmentarität gehört zu allen Schichten, aus denen wir zusammengesetzt sind. Wohnen, fahren, arbeiten, spielen: das Leben ist räumlich und gesellschaftlich segmentarisiert. Ein Haus ist der Nutzung seiner Zimmer entsprechend segmentarisiert; die Straßen entsprechend der Anlage der Stadt; die Fabrik nach der Art der Arbeiten und Tätigkeiten. Wir sind den großen dualen Gegensätzen entsprechend 'binär' segmentarisiert: in gesellschaftliche Klassen, aber auch in Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder etc. Und wir sind zirkulär segmentarisiert, in immer größeren Kreisen, in immer größeren Scheiben ... - das schrieben Deleuze & Guattari in den 'Tausend Plateaus' und sie fügten ihren Worten die 'Aufzählung' von Joyce gleich noch hinzu: meine Angelegenheiten, die Angelegenheiten meines Stadtteils, meiner Stadt, meines Landes, der Welt.
Als ich das las, mußte ich an die Bilder von Klaus W. Eisenlohr denken. Traute Räume, so der Titel der Ausstellung von digital bearbeiteten Photographien. Wunderschöne Bilder, getragen von einer eigenartigen Eleganz. Gemeint sind Orte in einer Großstadt. Genauer in einer amerikanischen Großstadt. Und, um es genau zu sagen: die versammelten Bilder sprechen von einem bestimmten Chicago. Sie sprechen aber auch, in einer zweiten Bildserie schwarzweisser Photographien, von einem kleinem deutschen Ort an der Nordseeküste, Hooksiel.
Wir sehen ambivalente Zustände. Zunächst sind es keine Plätze im originären Sinne, worin und worauf etwas ganz spezielles geschieht. Etwa ein Ort des Gedenkens mit einem mahnenden Stein oder ein Ort der Versammlung, ein Ort wo alle Touristen sich treffen oder ein Stadion als Ort der Unterhaltung. Und doch spricht die Serie auch von diesen Dingen im übertragenen Sinn. Etwa wenn ein verlassener Platz einen Zustand aufzeigt, daß an einem schönen Sonntagnachmittag, nahe am See, auf dem Steintisch mit einem Schachbrettmuster, umrahmt von vier schäbigen steinernen Stühlen, wahrscheinlich das Picknick einer durchschnittlichen Familie der Lowerclass stattfindet. Sie werden irgendwie genutzt, diese Orte. Das ist nicht zu übersehen. Und sie werden irgendwie doch nicht genutzt. Auch das ist nicht zu übersehen. Die Fluchtlinien der meisten Bilder haben ihren Ausgangspunkt am Straßenrand. Der Blick erscheint wie die Momentaufnahme von einem Durchgang, wie eine Art lineares Segment, nämlich das Anzeigen einer Bewegung, zumeist ein flüchtiges Vorübergehen, getragen von einer geradezu gespenstischen Ruhe.
Die Ambivalenz ist die große innewohnende Kraft der Bilder. Die verlassenen Plätze und Kreuzungen, die auf den ersten Blick vertraut erscheinen, gehören zum gewohnten Stadtbild. Der Zeitpunkt der Aufnahmen: der Übergang zwischen Taghelle und nächtlicher Dunkelheit, ein regenverhangener Herbsttag, Feierabend. Keine Hektik, kein drängender Strom von Menschen, keine Befindlichkeit, nur möglichst schnell von hier nach dort zu gelangen. So scheint es, daß der Mensch in den Bildern an den Rand gerückt ist. Hier und dort vereinzelt noch ein Auto. Und doch sind es Orte, an denen etwas geschehen könnte. Etwas Unvorhergesehenes. So gesehen sind die Orte nicht verlassen. Im Gegenteil. Die Landschaft der Bilder springt förmlich aus dem Zustand eines flüchtigen Blicks. Also eines Blicks, dessen Inhalt für gewöhnlich nicht aufbewahrungswert erachtet wird. Was man also schnell vergessen kann. Für mich die innewohnende Stärke und Kraft der Photos. Denn diese Flüchtigkeit wird gerade in Bezug auf grundlegende Gedanken zum Menschsein aufgehoben. Etwa in der Möglichkeit, den Raum ja mit je eigenem ausfüllen zu können. Eine Möglichkeit, gewiß.
Die Bilder bewirken also eine Übersetzung im Kopf, worin einzelne Bausteine zu einem Gesamteindruck heranreifen, also eine Geschichte vervollständigen, die von Mobilität getragen ist - und sie erzählen in der Übersetzung wiederum keine ganz besondere persönliche Geschichte. Nur ganz selten tauchen persönliche Bezüge der Protagonisten auf, weil die Leere und Konsistenz nicht nur eine trügerische Ruhe in sich trägt, sondern auch von Verlassenheit und Melancholie spricht, was oft in einer Großstadt ja auf Grund der Fülle von Bezügen unumgänlich scheint. Verlassenheit als Ausdruck, keinen Bezug zur unmittelbaren Umgebung zu bekommen. Verlassenheit als Ausdruck, keine Möglichkeit zu einem 'außer-sich-sein' zu haben. Doch hindert allein das 'Äußere' das eigene Handeln? Die zunächst gespenstisch anmutenden Szenen in den Bildern sind ja schon längst von allen Bevölkerungsschichten benutzt worden: direkt, indirekt, subtil, vorübergehend, im übertragenen Sinn, - sind Teil des Alltags ... auch das für mich die große innewohnende Kraft in den Bildern.
Nehmen wir zum Schluß die Bilder wie Plätze in einem kühnen Entwurf für ein Theaterstück. Als ein Plateau für ein überkommenes und zugleich utopisches Theaterstück. Sogleich erwacht die Neugierde, was wohl da und dort im Moment geschieht oder geschehen ist oder geschehen wird. Welches Stück wird im Moment gespielt? Das Drama des Alltags, in dem der Schlaf der Vernunft Ungeheuer erweckt? Die einfache Langeweile? Welche Dramatik zeigt sich? Die Phantasie erwacht. Welche Langeweile verlangt nach Veränderung? Sind es Bilder von einer (ver)trauten Umgebung?
All die Antworten auf diese Fragen zeigen sich lediglich indirekt. So gewinnt das Serielle des Theaters an oder um einen Ort eine eigentümliche Kontur. Was bedeutet in diesem Zusammenhang Vertrautheit? Etwa wenn mehrere Fenster in einer Häuserwand den Blick auf das Dahinter gewähren? Ein spannendes Moment. Ein Theaterstück zeichnet sich ja dadurch aus, daß es reproduzierbar ist. Die Aufführung steht in einem direktem Bezug zur Wiederholbarkeit, ist abstrakt gesehen ein Moment des Zählens: die soundsovielte Aufführung. Seriell in unserem Zusammenhang bedeutet, der bestimmende Blick des Photographen. Er trifft eine ganz bestimmte Auswahl. Diese Auswahl ist in all den Bildern durchgängig. Also eine konsistente Ebene in all den Photographien. Eine Serie begründet eine Reihe bestimmter gleichartiger Dinge oder Geschehnisse. Ich habe auch auf den flüchtigen Blick verwiesen, der jedoch durch die künstlerische Komposition eine ganz andere Bedeutung gewinnt. Denn das, was in einer Serie das Besondere ausmacht, nämlich die Unterbrechung der Reihe, die Unterbrechung der Gewohnheit, im Grunde eine Unterbrechung der Serie, ist in den Bildern geradezu subtil eingepflanzt, inmitten darin immer präsent zugegen. Für mich die eigentliche Klarheit und Kraft der Bilder von Klaus W. Eisenlohr. Und dadurch sind sie für mich im wahrsten Sinn des Wortes außergewöhnlich.